Viele Führungskräfte in Unternehmen wissen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Werten im Unternehmen und nachhaltigem Unternehmenserfolg. In der Realität scheitern viele jedoch mit ihren Bemühungen, ein stabiles Wertefundament zu setzen.

Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen bekennt sich in seiner Imagebroschüre zu Werten wie Respekt, Vertrauen, Verantwortung, Integrität und Nachhaltigkeit – und dann passiert so etwas: Der Mitarbeiter der Serviceabteilung raunzt den reklamierenden Kunden unhöflich an; die alleinerziehende Assistentin erfährt in einem fünfminütigen Gespräch, dass ihr gekündigt wird; der Marketingleiter fällt seiner Kollegin aus dem Vertrieb vor versammelter Mannschaft ins Wort und kanzelt ihre Vorschläge als Schwachsinn ab.  Alltägliche Ereignisse in vielen Unternehmen? Leider ja. Vergleichbare Vorfälle passieren häufig gerade in den Unternehmen, die ihre Orientierung an „guten“ Werten besonders betonen. Was tatsächlich gelebt wird, scheint sich von den angestrebten und gewünschten Werten allerdings gravierend zu unterscheiden.

In den Nachwehen des Dieselskandals und der bevorstehenden wirtschaftlichen Rezession als Folge des Corona-Lockdowns glaubt die Mehrheit der Gesellschaft, dass das Werteverständnis in den Führungsetagen zu wünschen übrig lässt. Manager machen nicht aufgrund vorbildlichen Verhaltens, sondern durch mangelnde soziale und gesellschaftliche Verantwortung oder Selbstbedienungsmentalität bei Bonuszahlungen trotz Antrag auf Staatshilfen Schlagzeilen. Kürzung von Mietzahlungen wegen der Corona-Krise trotz Milliardengewinnen im vergangenen Geschäftsjahr. Nicht zuletzt deshalb bröckelt das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft und ihre Eliten stark. Dennoch scheinen werteorientierte Unternehmensführung, Nachhaltigkeit und persönliche Integrität in den Führungsetagen eine Renaissance zu erleben. Allein an der Umsetzung hapert es noch.

Viele Unternehmen und Berater gehen die Fragestellung schon an sich falsch an: Sie starten oft Werte- und Kulturprojekte damit, einen neuen Werterahmen für das Unternehmen zu definieren. Dabei wirkt es so als wenn sie unterstellen, dass es bis dato in dem Unternehmen gar keine Orientierung an Werten gegeben hätte. Jahrelang konnte ich beobachten, dass die so initiierten Projekte niemals zu den gewünschten Ergebnissen führten.
Warum ist das so? Jede Handlung im Unternehmen ist von Werten geformt, ganz gleich, welche Ausprägung diese haben. Dies geschieht meist unbewusst. Der Wertekanon der handelnden Person ist wie eine DNA, die der Ausgestaltung einer Handlung eine Struktur für deren Wirkung vorgibt. In Unternehmen wird der Wertekanon entweder durch das Vorbild des Unternehmers oder des Top-Managements vorgegeben oder es hat sich im Laufe der Jahre ein entsprechender unbewusster Wertekonsens etabliert.

Folglich gibt es kein Unternehmen, das keine Werte hat. Und kein Unternehmen, dessen Handlungen sich nicht an einem – meist unbewussten – Wertekanon ausrichten. Ob diese Werte nun „gut“ oder „schlecht“ sind, sich also an den in der Gesellschaft akzeptierten und tolerierten Werten ausrichten oder diese missachten, spielt bei dieser Überlegung vorerst keine Rolle. Festzuhalten gilt zunächst nur: Jedes soziale System – auch das System Unternehmen – orientiert sich an Werten.

Beim werteorientierten Management darf die erste Frage also nicht lauten: Welche Werte hätten wir denn gerne? Ich bin der Meinung, dass sich die Verantwortlichen zunächst fragen müssen: Welche Werte prägen momentan sämtliche Handlungen im Unternehmen? Welche Werte stiften im Unternehmen, bei den Mitarbeitern, Kunden und Stakeholdern Identität? Erst im zweiten Schritt geht es darum, die bestehenden Werte zu verändern, anzupassen und bei Bedarf neue Werte zu prägen.

Die große Herausforderung besteht nun darin, der Unternehmensleitung und den Führungskräften die bestehenden Werte ihres Unternehmens bewusst zu machen. Dazu werden ganz gezielt bestimmte Interaktionen im Unternehmen durchleuchtet, die typischerweise Aufschluss geben können: der Umgang mit Kundenreklamationen, mit Kündigungen und mit Besprechungen, die Art und Weise, wie Veränderungsprojekte gemanagt werden sowie die Einschätzung von Mitarbeitern und Führungskräften über den Umgang miteinander. Daraus lassen sich wertvolle Rückschlüsse über die wesentlichen Wertemuster ziehen, die handlungsleitend sind und Identität stiften. Es liegt in der Natur der Sache, dass ohne die Beobachtung und Unterstützung von Personen außerhalb des Unternehmens dieser Schritt allerdings kaum zu realitätsdichten Ergebnissen führt. Ein hohes Maß an Erfahrung und systemischer Expertise ist notwendig, um auf allen Ebenen der Interaktion (Kommunikation, Beziehung, emotionale Intelligenz sowie Managementmethodik) die Handlungsprämissen und die dahinterliegenden Wertemuster zu erkennen.

Wer dann den aktuellen Werterahmen im Unternehmen kennt, sollte sich im nächsten Schritt fragen: Erstens, gibt es Inkonsistenzen zwischen den erkannten Werten und den strategischen Zielen und Vorgaben im Unternehmen? Zweitens, sind die erkannten Werte förderlich für die zukünftige Entwicklung des Unternehmens und passen sie überhaupt zu dem gewollten Image bei den Kunden, der Gesellschaft oder potentiellen neuen Mitarbeitern? Werden hierbei Widersprüche aufgedeckt, so ist es notwendig, die bestehenden Werte anzupassen und neue Werte zu prägen.

Werte sind Chefsache – aber nicht nur


Wie lassen sich neue Werte prägen? Die bisherigen Werte können nicht einfach per Beschluss oder per Definition abgeschaltet werden: Sie sind nach wie vor im „Gedächtnis“ der Organisation vorhanden und wirken. Je stärker ein neuer Wert, wie zum Beispiel „Verantwortung“, ins Bewusstsein der Beteiligten gehoben wird, umso größer ist die Chance, dass dieser neue Wert verinnerlicht wird. Wie so oft, spielen hier der Unternehmer bzw. die Führungskräfte eine entscheidende Rolle. Sie müssen als erste beginnen, den oder die gewünschten Werte in die eigenen Handlungen und Entscheidungen mit einzubeziehen. Dieser Lernprozess sollte reflektierend begleitet werden. Dies kann, bei entsprechender Reife der Führungskräfte, auch über kollegiales Feedback geschehen.

Unabhängig davon, ob bestehende Werte oder ergänzende neue Werte gelebt werden sollen, Werte müssen erklärt werden. Es reicht nicht aus, sie plakativ aufzuschreiben oder zu präsentieren. Vielmehr braucht es griffige Verhaltensanker, mit denen jeder Mitarbeitende beispielhafte Szenarien für sein tägliches Tun bekommt, die sich an den Werten ausrichten. Darüber hinaus empfiehlt es sich, zu regelmäßigen Wertedialogen einzuladen, in denen im Kollegenkreis über die Werte, deren Einhaltung, aber auch über Wertekonflikte gesprochen wird. Diese Wertekonflikte sind in der Praxis meist unumgänglich. Sie treten in Situationen auf, in denen Werte miteinander konkurrieren. So können beispielsweise „Transparenz und Offenheit“ in Kombination mit „hoher Kundenorientierung“ in kritischen Liefer- oder Gewährleistungssituationen stark mit der Loyalität zum Arbeitgeber konkurrieren. Hier den einzelnen Mitarbeiter nicht alleine zu lassen, sondern einen offenen Dialog zu führen, hilft, dass das Unternehmen einheitlich wirkt. Somit können Werte identitätsstiftend die „Persönlichkeit“ des Unternehmens prägen.

Unternehmen, die missachten, dass ein Werterahmen vorhanden ist und entsprechend wirkt, bekommen die Konsequenz zu spüren: Widerstand auf der ganzen Linie. Dieser Widerstand zeigt sich bei den Mitarbeitern in Form von fehlender Performance, höheren Fehlerquoten, innerer Kündigung und ähnlichen Phänomenen. Außerdem bei Kunden durch Unzufriedenheit, Reklamationen, irrationalen Preisdiskussionen und Abwanderung zum Wettbewerb. Keine klare Identität und fehlende Markenwirkung. Gelingt es umgekehrt, ein stimmiges Wertefundament zu etablieren und entschlossen zu seinen Werten zu stehen, bleibt der Lohn nicht aus: Es entsteht eine Vitalität, die es dem Unternehmen ermöglicht, sich in dynamischen Märkten langfristig zu bewegen und Krisen zu meistern. Überzeugende Beispiele für gelebte Werte und daraus resultierenden wirtschaftlichen Erfolg sowie hohe Akzeptanz bei Mitarbeitern, Kunden und Stakeholdern geben gemeinwohlorientierte Unternehmen wie Vaude oder Polarstern. Ihre Orientierung an Werten wie ethisch-ökologisches Handeln, Übernahme von sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung und Nachhaltigkeit schlagen sich nicht nur in Hochglanzbroschüren von Unternehmensleitbildern nieder, sondern werden glaubwürdig und integer vorgelebt.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.