Mythos Teal-Organisation

Seitdem Frédéric Lalouxs Buch "Reinventing Organizations" erschienen ist, überlegen viele Unternehmen, ihre Organisation zu einer Teal-Organisation zu transformieren (teal englisch für türkis / blaugrün - entsprechend der Typisierung von Laloux). Doch nur wenige stimmen wirklich mit der Teal-Idee überein. Inzwischen kursieren verschiedene Mythen über diese Idee. Ich teile hier gerne meine Gedanken zu einigen von ihnen:

Mythos Nr. 1: Teal ist besser

Eine beträchtliche Zahl von Menschen nimmt Teal wörtlich und betrachtet es als eine Art Ideal oder Status, der erreicht werden soll. Obwohl Teal viele wünschenswerte Eigenschaften wie organisatorische oder soziale Strukturen aufweist, ist nicht jeder für Teal bereit. Teal spiegelt ein hohes Maß an Weisheit darüber wider, wie wir unsere Beziehungen zu anderen und zur Welt um uns herum sehen. Es ist das Ergebnis einer gewissen Reife, in die man sich nicht hineinstürzen kann, sondern nur hineinwächst. Ähnlich sollte das Verhalten eines 60-Jährigen nicht als Richtwert für einen 20-Jährigen oder einen 40-Jährigen gelten.
 
"Besser" ist kein universeller Standard oder eine Bewertung im Verhältnis zu anderen Kulturen. In der Bewertung ignorieren wir oft, dass die Kulturen sich unter den Rahmenbedingungen des Umfeldes bewähren müssen. Verhaltensweisen, die das Umfeld als nicht geeignet reflektiert, werden auch nicht kultiviert. Eine Kultur muss unter den gegebenen Umweltbedingungen ein lebensfähiges System stützen und den Beitrag zum Gemeinwohl, also den Public Value, vergrößern.

Mythos Nr. 2: Teal ist abstrakt

Teal ist so real wie Sauerstoff oder Menschenrechte, obwohl sie unsichtbar sind. Wir kämpfen damit, weil wir versuchen, eine vierdimensionale Erfahrung mit einer zweidimensionalen Sprache zu beschreiben. Um darüber zu sprechen, müssen wir lernen, eine neue Sprache zu verwenden. Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine wunderschöne alte persische Poesie genießen und in ihrem Wesen erfassen und bestehen darauf, sie in deutscher oder japanischer Sprache zu diskutieren. Das wird nicht gelingen. Um die authentische Erfahrung zu machen, müssen sie zuerst Persisch lernen und die persische Geschichte verstehen.
 
Bestandteil der authentischen blaugrünen Sprache ist Spiritualität, eine Art Grammatik, die die meisten Unternehmen nicht beherrschen, ganz zu schweigen von den vielen Dialekten (auch bekannt als Religionen oder andere Interpretationen). Um über Teal zu sprechen, müssen wir die Ganzheit annehmen, die nicht ein Wort ist, sondern vier Wörter in einem - physisch, mental, emotional und spirituell. Die Unternehmen sind so, wie sie heute sind, weil wir uns nur auf physische und mentale Aspekte des Menschen konzentriert haben. Die fehlenden Teile baumeln vor uns und warten darauf, dass wir sie erkennen und aktiv nutzen.

Mythos Nr. 3: Teal ist eine neue Methode

Wer behauptet, dass Teal lediglich eine Methode ist, um neue Strukturen und Prozesse einzuführen, hat das Wesen einer Teal-Organisation noch nicht verstanden. Die Einführung von Strukturmodellen, die eine Selbstorganisation ermöglichen, und das Design der Strukturelemente auf den systemischen Zweck (Purpose) anzupassen sind nur einige der Merkmale einer Teal-Organisation. Das sind zwar auffällige Merkmale, aber sie machen noch lange keine Teal-Organisation aus. Was Teal grundlegend von anderen Stadien der Organisationsentwicklung unterscheidet, ist eine Denkweise, die den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit annimmt und ihn nicht zur „Human Ressource“, einem Mittel zur Zweckerfüllung, reduziert. Diese Haltung prägt bei den Führungskräften das Vertrauen, dass über die Interaktionsintelligenz einer Selbstorganisation bessere Lösungen entstehen als durch hierarchisch legitimierte Managemententscheidungen. Hinzu kommt eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die das Businessmodell nicht nur als einfache Kunden-Lieferanten-Beziehung sieht. Im Vordergrund steht die Bereitschaft und die Fähigkeit, eine komplexe Co-Evolution in einem gemeinsamen Öko-System einzugehen. Damit wird die Organisation zu einem lebendigen Organismus, der seine Wertschöpfung, analog eines biologischen Stoffwechsels, mit seinem Umfeld lebt und sich permanent anpasst. Daher ist es sinnlos, nach den perfekten Strukturen, Prozessen oder Methoden zu suchen.

Mythos Nr. 4: Die Teal-Lösung findet man über Best Practice

Als Frédéric Laloux diese blaugrüne exotische Frucht - nennen wir sie der Einfachheit halber „Apfelsine“ - der Welt vorstellte, bemerkten viele Menschen ihren exquisiten Geschmack. Es folgte eine große Begeisterung dafür gewöhnliche Apfelsinen in blaugrüne Apfelsinen zu verwandeln. Mit dieser Einstellung versuchen wir, die Best Practices von Teal / Purpose-Driven Organisationen und ihren Führungskräften zu identifizieren. Dann kopieren wir sie: kein Chef, kein Titel, selbst gewählte Gehaltsskalen, Austausch aller Informationen, dezentrale Entscheidungsfindung usw. Leider funktionieren Best Practices nur für bestimmte Personen und in einem bestimmten Kontext. Darüber hinaus erkennen wir nicht, dass diese Praktiken lediglich Symptome oder Ergebnisse der bisherigen Denkweisen sind und nicht deren Ursache.
 
Die Teal Apfelsine anzubauen, ist eigentlich einfach, aber nicht so leicht, wie wir denken. Wenn wir den Apfelsinenbaum deutlich größer werden lassen, sind die neuen Früchte, die aus höheren Zweigen kommen, blaugrün. Der einzige Weg, dies zu erreichen, besteht darin, nach innen zu schauen. Wer das für Unsinn hält, wird sich vielleicht auch bestätigt fühlen, denn unsere Wahrnehmung ist unsere Realität. Wenn dies Ihr Glaubenssystem untergräbt oder herausfordert, können Sie es jederzeit ablehnen. Nicht jeder ist dazu bereit. Aber Sie werden auch keine blaugrünen Früchte ernten. Was wir Menschen tun, ist das Ergebnis dessen, was wir denken. Wenn wir das tun, was andere tun, ohne das gleiche Mindset zu haben, wird die so aufgebaute Struktur bald zusammenbrechen.
 
Für diejenigen, die neugierig sind und wissen wollen, wie das klappen kann, hier ein passendes Denkmodell: Der Prozess besteht darin, die Wurzeln zu pflegen. Während die meisten Menschen sich auf die Früchte oder die Ergebnisse konzentrieren, ist die wahre Lösung intuitiv. Je tiefer und stärker die Wurzeln sind, desto wahrscheinlicher kann der Baum größer und größer werden. Bei der Wurzel geht es darum, das Wesen, die spirituelle Natur dessen aufzudecken, wer wir wirklich sind.
 
Bei Teal geht es weniger darum, das Teal-Stadium gezielt zu erreichen, als vielmehr darum, uns unserer Absicht, unseres Fokus und unserer Wirkung bewusst zu werden. Es geht darum, die beste Version von uns als Einzelpersonen, Führungskräften und Organisationen im Kontext einer ganzheitlichen Weltsicht zu werden.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.