Organisationsmodell des lebenden Systems

Das alte Paradigma: Organisationen als Maschinen

Im Jahr 1910 war die Ford Motor Company einer von vielen kleinen Automobilherstellern. Ein Jahrzehnt später hatte Ford weltweit einen Marktanteil von 60 Prozent am neuen Automobilmarkt. In dieser Zeit reduzierte Ford die Montagezeit pro Fahrzeug von 12 Stunden auf 90 Minuten und den Preis von $ 850 auf $ 300. 

Fords Ideen und die seines Zeitgenossen, Frederick Taylor, waren bahnbrechend. Mit wissenschaftlichen Methoden optimierten sie die Arbeitsproduktivität. Es begann eine Ära beispielloser Effektivität und Effizienz. Taylors Ideen wurden Grundlage für eine moderne Qualitätskontrolle, Total-Quality-Management und - durch Taylors Studenten Henry Gantt –  modernes Projektmanagement.

Gareth Morgan beschreibt die tayloristische Organisation als hierarchisch und hochspezialisiert. In seinem Bild sind solche Organisationen wie Maschinen angelegt. Sie funktionieren nach klaren, linearen Ursache-Wirkungs-Mechanismen.  Jahrzehntelang dominierten Organisationen, die dieses Maschinenmodell und die Prinzipien des wissenschaftlichen Managements akzeptierten, ihre Märkte. Sie waren besser als andere Organisationen und gewannen die besten Talente.  Sie prägten bis ins 21. Jahrhundert das Bild des erfolgreichen Wirtschaftens. Dem entsprechend richteten sich Management- und Führungsverständnis 100 Jahre an diesem Erfolgsmodell aus.

Disruptive Trends, die das alte Paradigma herausfordern

Die „digitale Revolution“ mit ihrer exponentiell wachsenden technischen und wirtschaftlichen Vernetzung,  der zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit und den Unvorhersehbarkeiten immer komplexer wirkenden Herausforderungen, stellen die etablierten „Erfolgsregeln“ der mechanistischen Organisationssicht vor unlösbare  Probleme. Dies äußert sich in vier aktuellen Trends:
Sich schnell entwickelnde Umgebung. Die Nachfragemuster aller Beteiligten ändern sich rasch: Kunden, Partner und Regulierungsbehörden haben Bedürfnisse, die sich schnell ändern. Investoren fordern Wachstumszahlen, die über lineares Geschäftswachstum nicht zu erbringen sind, was zu Akquisitionen und Restrukturierungen führt.
Ständige Einführung von disruptiver Technologie. Etablierte Unternehmen und Branchen können ihre Zukunftsfähigkeit nur dadurch sichern, dass sie Ihren Wertschöpfungsprozess extrem digitalisieren. Beispiele sind Entwicklungen wie maschinelles Lernen, das Internet der Dinge und Robotik.
Beschleunigung der Digitalisierung und Demokratisierung von Informationen. Die zunehmende Menge, aber auch die Verteilung und Transparenz von Informationen erfordert, dass Unternehmen sich schnell in multidirektionaler Kommunikation mit Kunden, Partnern und Kollegen engagieren.
Der Krieg um Talente. Da kreative wissens- und lernbasierte Aufgaben immer wichtiger werden, benötigen Unternehmen ein unverwechselbares Leistungsversprechen, um die besten Talente zu gewinnen oder zu behalten. Diese haben oft ganz andere Motive und Lebens- und Karrierevorstellungen, als dies die bestehenden Organisationen abbilden könnten.
Wenn mechanistische Organisationen versuchen sich mit diesen neuen Herausforderungen zu befassen, scheitern die meisten. Dies veranschaulichen folgende Zahlen: Weniger als 10 Prozent der Standard & Poor´s 500 (S&P 500) -Unternehmen aus dem Jahr 1983 sind im Jahr 2013 im S&P 500 gelistet. Die meisten Unternehmen versuchen durch ein Redesign ihrer Strategie ihre Zukunft zu sichern. Doch die Mehrzahl dieser Redesign-Bemühungen scheitern - nur 23 Prozent wurden erfolgreich umgesetzt.

Das neue Paradigma: Organisationen als lebende Organismen

Die oben beschriebenen Trends verändern die Arbeitsweise von Organisationen und Mitarbeitern dramatisch. Es drängt sich die Frage nach dem neue Organisationsparadigma für die nächsten 100 Jahre auf. Wie werden Unternehmen die Balance zwischen Stabilität und Dynamik im digitalen Zeitalter finden? Welche Unternehmen werden ihren Markt dominieren und die besten Talente anziehen?
Das neue Organisationsparadigma, das die Balance zwischen Stabilität und gleichzeitiger Dynamik erreicht, erscheint aus mechanischtischer Weltsicht als Paradoxon. Kombiniert es doch stabile Kernelemente, die sich langsam entwickeln mit dynamischen Fähigkeiten, die sich schnell an neue Herausforderungen und Möglichkeiten anpassen können.  Sogenannte agile Organisationen mobilisieren sich schnell, sind dynamisch, handlungsfähig und leicht handhabbar. Kurz gesagt, sie reagieren wie ein lebender Organismus.

Auch wenn Druck ausgeübt wird, reagiert die agile Organisation sehr robust. Die Leistung verbessert sich tatsächlich, auch bei steigendem Druck.  Untersuchungen zeigen, dass die meisten agilen Organisationen einen sehr guten Indikator für langfristige Leistungsstabilität besitzen.  Darüber hinaus erreichen diese Unternehmen gleichzeitig eine größere Kundenorientierung, kürzere Markteinführungszeiten, höheres Umsatzwachstum, niedrigere Kosten und eine stärker engagierte Belegschaft.
Ein Beispiel aus der Praxis belegt dies: Eine nach agilen Organisationsprinzipien ausgerichtete Bank reduzierte ihre Kostenbasis um etwa 30 Prozent, während sie das Engagement der Mitarbeiter, die Kundenzufriedenheit und die Time-to-Market deutlich verbesserte.
Agile Organisationen integrieren eine Reihe von Technologien zur Entwicklung und Bereitstellung von Technologien der nächsten Generation. Sie richten ihr Geschäftsmodell konsequent nach der Befriedigung der wesentlichen Kundenbedürfnisse aus. Geschäfts- und Technologie-Mitarbeiter bilden funktionsübergreifende Teams, die für die Entwicklung, das Testen, die Bereitstellung und die Wartung neuer Produkte und Prozesse verantwortlich sind. Sie nutzen Hackathons, Crowdsourcing und virtuelle Kollaborationsräume, um Kundenbedürfnisse zu verstehen und schnell mögliche Lösungen zu entwickeln. 
Viele Unternehmen befinden sich in dem Prozess des Wandels hin zu agilen Organisationsformen.  High-Tech, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Medien und Unterhaltung scheinen hierbei führend zu sein. Aber alle Branchen werden sich mit agilen Organisationsformen auseinandersetzen müssen.

Haltungsänderung durch Handlungsänderung

Die geschilderten Beispiele verdeutlichen, dass der Wandel vom alten zum neuen Paradigma als Notwendigkeit in vielen Unternehmen erkannt wurde. Der Weg der Transformation aber ein sehr steiniger Weg sein kann. Es werden sich nicht nur Prozesse und Strukturen auf diesem Weg ändern. Dieser Wandel bedingt eine Änderung der Haltung und Einstellungen – zum Geschäftsmodell, zum Kunden, zum Mitarbeiter, zu Allem. Dies gilt insbesondere für das Management und die Führung der Organisation. Sie müssen befähigt werden, ihre alten Führungsmuster aufzugeben und durch neue zu ersetzen. Dies gelingt nur durch handlungsorientierte Entwicklungsprogramme an deren Ende sich die Haltung der Führungskräfte an die neuen Gegebenheiten agiler Organisationen angepasst haben. Ein nicht einfacher, aber unumgänglicher Weg, wenn sich die bestehende Organisation auch in Zukunft erfolgreich im Markt bewegen will.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.