Führen und geführt werden ist in der Natur des Menschen verankert. Die Fähigkeit zu führen, beziehungsweise sich führen zu lassen, ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Entwicklung. Aus Sicht von Evolutionsforschern und Neurologen war es für die Urmenschen überlebenswichtig, sich gemeinschaftlich den Herausforderungen der Umwelt zu stellen. Dies brachte viele Vorteile. In sozialen Gruppen konnten Aufgaben geteilt werden. Während die Einen für Nahrung sorgten, kümmerten sich die Anderen um den Schutz und die Aufzucht des Nachwuchses oder bewachten das Feuer. Aus dieser Perspektive betrachtet war die Aufgabe von Führung zunächst einmal das Verteilen von Aufgaben und Ressourcen innerhalb der Gruppe. Dazu war es notwendig, die Fähigkeiten jedes Einzelnen in der Gruppe so gut einzuschätzen, damit dieser entsprechend seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten der Gemeinschaft den größten Nutzen bringen konnte. Nur so war das Überleben der Gruppe und damit auch des einzelnen Individuums gesichert. Ähnlich wie bei Herden- oder Rudeltieren noch heute, war für den urzeitlichen Menschen der Fortbestand der Gemeinschaft das wesentliche Augenmerk für die Auswahl der Anführer. Die Kriterien hierfür konnten, abhängig von den Umweltbedingungen, variieren. Mal war das Wissen um überlebensnotwendige Ressourcen, wie Wasserstellen oder Futterplätze von Beutetieren ausschlaggebend für die Gruppenführung, in anderen Situationen war es allein die körperliche Kraft. Sicherlich kam es auch in diesen Gemeinschaften immer wieder zu Auseinandersetzungen um das beste Stück Fleisch, den besten Schlafplatz, wer sich mit wem verpaart, etc. Auch hier hatte Führung ihre Aufgabe, damit möglichst wenig Energie für die Streitereien verschwendet wurde, um die Chance zu überleben so hoch wie möglich zu halten. Aus dieser einfachen Form der Zusammenarbeit, die eben auch eine kollaborative Übernahme von Führungsaufgaben mit sich bringt, entstanden folgende Führungsaufgaben:
Zusammenhalt und Koordination schaffen
Lösen von Konflikten in der Gemeinschaft
Für Mobilität der Gruppe sorgen
Kooperation oder Wettbewerb mit anderen Gruppen
Das evolutionäre Erfolgsmodell der Führung hat sich über die Geschichte der Menschheit bewährt und wurde, entsprechend der Bedürfnisse seiner Anwendung, situationsgerecht adaptiert. Auch wenn wir in jeder kleinen sozialen Gemeinschaft, wie der Familie, eine gewisse Form von Führung haben, wurde der Begriff im Wesentlichen für entsprechende Aufgaben im Staat, im Militär und der Religion verwandt. Von den Hochkulturen des alten Ägyptens über Homers Erzählungen von Odysseus, Konfuzius in China und den griechischen Philosophen wurde über Führung bewusst nachgedacht und gemäß den überlieferten Schriften als komplexe Herausforderung beschrieben.  Platon und sein Schüler Aristoteles entwarfen bereits Lehrsätze über die Komplexität des Staates und seiner Führung, die bis in die Neuzeit ihre Gültigkeit behalten haben. Das römische Reich basierte auf Strategie und Führung. Die staatlichen Strukturen, die militärische Ordnung, die Handelsbeziehungen sowie die kulturellen Errungenschaften waren vom Prinzip der Strategie und Führung durchdrungen. Die großen Kaiser des römischen Reiches zeichneten sich durch militärische, politische und persönliche Stärke aus.
Die ideale Führungskraft des Mittelalters wird von Machiavelli als ein konsequenter, dem Zweck alles unterordnender Fürst beschrieben, der im Zweifel, auch im wahrsten Sinne des Wortes, über Leichen geht. Die Vielfältigkeit der politischen Strukturen in Europa und den wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen entsprechend, bildeten sich immer differenziertere Formen von Führung aus. Mit zunehmendem Handel und größer werdenden Gewerben wurden arbeitsteilige Abläufe wichtiger. Dadurch gewann Führung auch immer mehr Bedeutung im Wirtschaftsleben. Mit Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wurden dann Aspekte im wirtschaftlichen Umfeld immer wichtiger, die wir heute als Managementdisziplinen kennen: Komplizierte Abläufe strukturieren und Funktionen in arbeitsteiligen Strukturen steuern. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Begriff des Managements bereits bekannt. Viele Wissenschaftler, u.a. Frederick Taylor, beschäftigten sich mit Theorien, bei denen es um Effizienz, Gleichförmigkeit und Vorhersehbarkeit von Produktionsabläufen ging. Das Bild des sozialen Systems, das über Jahrtausende die Führungsansätze geprägt hat, wurde durch das Bild des Unternehmens als ein mechanistisch agierender Apparat abgelöst. Dementsprechend setzte sich das Bild des Managers auch im Grundverständnis der Führung durch. Zahlreiche Managementmodelle entstanden in den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und dieser Trend setzt sich bis in die heutige Zeit fort. Vom “Management by Objectives” über “ Total Quality Management” bis hin zu “Lean Management” und wie sonst die vielen “Management by…”-Experten ihre Theorien nennen. Zum Zeitpunkt der industriellen Hochkultur hatten diese Ansätze wahrscheinlich einen Sinn - zumindest für deren Begründer.
Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und den immer stärkeren Vernetzungen und Verflechtungen erkennen wir aber, dass die mechanistischen Managementbilder uns in den wesentlichen Fragen der Führung nicht weiterhelfen, sondern uns eher in eine Sackgasse fahren lassen. Der Versuch, eine komplexe Welt mit linearen Managementansätzen zu verstehen und zu beherrschen, kann nicht funktionieren. Sich in einer Welt zu bewegen, die wir nicht umfassend verstehen oder begreifen, sich den dynamischen Veränderungen in der Umwelt zu stellen und bereit zu sein, Herausforderungen zu meistern trotz der Unvorhersehbarkeit und Ambivalenz der Dinge, bedingt wieder Führungsqualitäten, die wir bereits seit Ur-Zeiten in uns haben. Es braucht sozusagen eine Renaissance der Führung oder besser: eine Befreiung des Führungsverständnisses vom Diktat des Managements. Dabei hat sich die Aufgabe von Führung nicht wesentlich verändert. Sie umfasst:
Stiftung von Identität
für Ordnung sorgen
Orientierung geben
mobilisieren
Für die Führungskräfte bedingt die Digitalisierung einen Kulturwandel. Dieser wird herausfordernder sein als die technologischen Herausforderungen, vor denen die Unternehmen stehen. Viele Beispiele, so wie Nokia zeigen, dass das Verharren in alten Managementgrundsätzen existenzgefährdend für das ganze Unternehmen ist. Führung in modernen Unternehmen wird im Wesentlichen über personale und soziale Kompetenzen legitimiert sein. Das fachliche Wissen und die Legitimation über Hierarchie treten in den Hintergrund. Das systemische Verständnis ersetzt das mechanistische Weltbild. Wenn eine entsprechende Anpassung der Führungsparadigmen und Erweiterung der Führungskompetenzen gelingt, ist ein wesentlicher Baustein für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens, auch im digitalen Umfeld, gelegt worden. Hierzu sind personale Entwicklungsprogramme notwendig, die nicht allein auf Methodenvermittlung sondern auch auf die Förderung der kommunikativen Kompetenz ausreichtet sind, idealerweise in Kombination mit der individuelle Entwicklung von Haltung und Stärkung des „Sich-Selbst-bewusst-seins“.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.