Unternehmen gelten als ideales Beispiel für bewusste Planung und rationale, zweckorientierte Gestaltung von Strukturen. Gleichzeitig sehen wir in ihnen aber auch sehr komplexe, dynamische Systeme. Dennoch ist der Begriff der Selbstorganisation im Unternehmensumfeld meist nur auf das Zeit- und Prioritätenmanagement einzelner Personen ausgerichtet als auf die Fähigkeit der Organisation, sich auf veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Im Vergleich mit der Natur ist es einsichtig, dass diese - in ihrer Evolution und im Umgang mit der Überlebensstrategie der Arten - sehr wohl auf Selbstorganisation baut. Da die Umgebung von Unternehmen ebenso komplex ist wie die Natur, macht es Sinn, wenn das Management bewusst die Selbstorganisationsphänomene zulässt, da diese genügend Kapazität (Varietät) für den Umgang mit dieser Komplexität aufweisen. Auch wenn es im Rahmen einer Organisationsentwicklung ungewohnt erscheint, ist es deshalb lohnend, sich mit der Selbstorganisation von Unternehmen zu beschäftigen.

Soziale Systeme, wie Unternehmen, bedingen Ordnung schaffende und erhaltende Werte, die in Form von Normen bzw. Regeln die Interaktionen zwischen den Menschen bestimmen und ihre Handlungen steuern. Wobei den Menschen weder die Normen noch die Regeln bewusst sein müssen. Für die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen reicht ausschließlich die Einhaltung dieser, ohne dass sich die Sinnhaftigkeit dem Einzelnen erschließen muss.

Auch die Regeln selbst sind nicht im üblichen Sinne erlassen worden. Sie entstanden eher aus einem Selektionsprozess, der Jene bevorteilt, die die Regeln tatsächlich, meist intuitiv, befolgten, womit die spezielle Kultur dieses Systems entstand. Durch das Anwenden dieser Regeln hatten diese Gruppen, im Vergleich zu anderen, Vorteile im Erreichen der Aufgabenstellung und/oder im „Überleben“. Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, können solche Systeme eine höhere Komplexität verarbeiten. Sie sichern sich, speziell in sich verändernden Umgebungen, ihr Überleben bzw. ihren anhaltenden Erfolg.

In der Kultur des Unternehmens müssen jene Regeln verankert sein, die es den einzelnen Mitgliedern möglich machen, sich unvorhersehbaren Veränderungen in der Umwelt (Markt, Kunden, Wettbewerb, politische Rahmenbedingungen), aber auch Änderungen im internen Umfeld anzupassen, ohne auf Weisungen einer zentralen Instanz angewiesen zu sein. Dies gilt sowohl in der Vermeidung von Risiken als auch in der konsequenten Nutzung von Chancen.

Die Führung des Unternehmens ist hier in besonderer Weise herausgefordert: Einerseits sollen Unternehmen ein hohes Maß von Zweckmäßigkeit und Ordnung aufweisen, andererseits agieren Unternehmen in einer hochkomplexen Umwelt und sind aufgrund ihrer eigenen inneren Komplexität und Größe in der Regel nie in Gänze überschaubar. Insofern bietet die Idee der selbstorganisierten Systeme einen Ansatz, der den Erfolg des Unternehmens nicht allein von den zentralen Steuerungsorganen abhängig macht sondern auf die „Intelligenz“ die aus der Interaktion aller Beteiligten entsteht - der Interaktionsintelligenz. Aber Selbstorganisation braucht Führung – die Dinge einfach „nur laufen lassen“ hat nichts mit Selbstorganisation zu tun.

Wie kann die Fähigkeit zur Selbstorganisation entfalten werden?

Um ein Unternehmen in Richtung Selbstorganisation zu entwickeln, ist ein grundlegendes Verständnis seiner Funktionsweise notwendig. Daher ist die ersten Aufgaben, den „genetischen Code“, die Unternehmenskultur, zu entschlüsseln. Mittels fundierter Analyse der Kultur und deren Reflektion hinsichtlich der Strategie, Struktur und Führung können die Grundannahmen, Normen und gelebten Ordnungsbegriffe entschlüsselt werden. Sie sind der Referenzrahmen für eine bewusste Gestaltung der Unternehmensentwicklung hin zur Selbstorganisation.

Als nächstes gilt es sich der Führungskultur zu widmen. Führung bedeutet einen Raum geben, in dem Selbstorganisation entstehen kann, und dafür Sorge tragen, dass dieser Raum auch gehalten wird. Führung sorgt für Sinnstiftung und Orientierung. Eine klare Vision und vorgelebte Werte richten die Interaktionen und Beziehungen innerhalb des Systems auf eine effektive Zweckbestimmung aus. Ein vertrauensvoller Umgang hilft dabei die Unternehmensbelange mit den individuellen Wünschen, Erwartungen und Bedürfnisse der Mitarbeitenden sinnvoll auszubalancieren. Machtspiele ersticken das aufkeimende Pflänzchen „Selbstorganisation“ sofort.

Aus der Kybernetik wissen wir, dass die Steuerung eines Systems nur so gut sein kann, wie das Modell des Systems dieses selbst abbildet. Das bedeutet: Mit einem fehlerhaften Modell wird die Steuerung nicht gelingen und außer Kontrolle geraten. Mit Hilfe des Viable System Models (VSM) können wir die Fehler in der Organisationsstruktur erkennen und Vorschläge für deren Verbesserung erarbeiten.  Daraus kann ein integriertes Managementmodell entstehen, das die Steuerung des Systems in der entsprechenden Kultur abbildet.

Gleichzeitig ist eine starke Ausrichtung des Unternehmens auf den Kunden notwendig. Sie ist die einzige Orientierungsgröße für selbstorganisierte Unternehmen, die eine nachhaltige Wertschöpfungsperspektive ermöglicht. Sie ersetzt eine rein kostenoptimierte, kapitalwertorientierte Unternehmensausrichtung. Die Key-Player der Digitalisierung zeigen dies sehr deutlich.

Schließlich muss die Fähigkeit offen und verantwortet Veränderungen zu initiieren und konsequent umzusetzen mit dem Wissen um die intelligente Gestaltung diverser Schlüsselelemente kombiniert werden, um einige der kybernetischen Grundsätze zur Selbstorganisation sinnvoll in der Praxis anzuwenden.

Fazit: Unternehmen müssen sich noch bewusster sowohl mit der Komplexität des Innen und Außen als auch mit der aktiven Gestaltung einer vertrauensbasierten Führungskultur auseinandersetzen. Ein fundiertes Verständnis für das Phänomen der Selbstorganisation und deren Nutzung wird im Management künftig einer der Hauptfaktoren in der Abgrenzung zum Wettbewerb sein, um der Verantwortung für eine nachhaltige, wertschöpfende und wertsteigernde Unternehmensentwicklung gerecht zu werden.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.